Benjamin Libet will selbst nicht glauben, was sein Experiment nahelegt: Der freie Wille ist eine Illusion.
EINE SEKUNDE ist eine lange Zeit. Eine zu lange, fand Benjamin Libet. Der amerikanische Hirnforscher hörte zum ersten Mal 1977 an einem Wissenschaftskongress von dieser Sekunde, zwölf Jahre nachdem sie gemessen worden war. Eine Sekunde, das ist die Zeit, die bei einer willkürlichen Handbewegung verstreicht von den ersten Vorbereitungen im Gehirn bis zur Ausführung der Bewegung, so hatten es Hans Kornhuber und Lüder Deecke 1965 publiziert. Die beiden deutschen Neurologen hatten die vor einer Handlung auftretenden elektrischen Veränderungen im Gehirn damals entdeckt und Bereitschaftspotential getauft.
Dass das Bereitschaftspotential vor der Bewegung einsetzt, ist keine Überraschung, schliesslich können Muskeln erst aktiv werden, nachdem sie vom Gehirn den Befehl dazu erhalten haben. Dennoch war das Resultat in einem gewissen Sinn absurd.
Die Versuchspersonen durften selber entscheiden, wann sie ihre Hand bewegten. Zwischen dem Zeitpunkt dieser freien Entscheidung und der Bewegung musste also mindestens eine Sekunde liegen. Libet fiel sofort auf, dass das der Alltagserfahrung widersprach: Eine Sekunde zwischen der Entscheidung, nach dem Bleistift zu greifen, und dem Griff danach - das war eindeutig zu lange.
Die ganzen Überlegungen basierten auf einer Voraussetzung, die so selbstverständlich schien, dass niemand sich die Mühe gemacht hatte, sie zu überprüfen: Der bewusste Entscheid für die Bewegung muss fallen, bevor das Gehirn die ersten Vorbereitungen dafür einleitet. Ursache vor Wirkung. Daran konnte niemand ernsthaft zweifeln - oder doch?
Libet wollte es genau wissen. «Das ganze nächste Jahr fragte ich mich, wie in aller Welt sich der Zeitpunkt der bewussten Entscheidung messen liesse.» Kornhuber und Deecke hatten ja nur den Moment des Bereitschaftspotentials und der Bewegung erfasst, nicht aber den Zeitpunkt der bewussten Entscheidung, denn der ist nur der Versuchsperson selbst zugänglich. Er lässt sich nicht objektiv messen, nicht aus Hirnströmen lesen, also liessen die Forscher die Finger davon. Der freie Wille galt als wissenschaftlich nicht untersuchbar. «Ich glaube, die Leute hatten richtig Angst davor.»
Libet suchte nach einer Möglichkeit, wie die Versuchspersonen ihm mitteilen könnten, wann ihre Entscheidung fiel, die Hand zu bewegen. Doch sie konnten weder etwas sagen noch ein Handzeichen geben: Diese Signale wären ja selbst mit der unbekannten Verzögerung einer willkürlichen Bewegung behaftet gewesen.
Dann hatte Libet die Idee mit der Uhr. Wenn die Versuchspersonen auf eine schnell gehende Uhr blicken und sich merken würden, wann sie den Entschluss für die Bewegung fassten, könnten sie diesen Wert nachher dem Versuchsleiter melden. Libet zweifelte zuerst an seinem Einfall: «Weil die Messung sehr genau sein musste, glaubte ich nicht daran, dass es funktionieren würde, doch ich beschloss, es zu versuchen.»
Keine Arbeit hat in den Neurowissenschaften mehr Kontroversen und unterschiedliche Interpretationen hervorgebracht als diese Versuche, denn Libet fand heraus, dass es den freien Willen möglicherweise gar nicht gibt.
Im März 1979 nahm die erste von fünf Versuchspersonen, die Psychologiestudentin C. M., auf dem bequemen Lehnstuhl in Libets Labor am Mount-Zion-Spital in San Francisco Platz. Sie wurde am Kopf und am rechten Handgelenk mit Elektroden versehen und blickte auf einen kleinen Bildschirm in zwei Metern Entfernung. Dort kreiste ein grüner Punkt, der 2,56 Sekunden pro Umdrehung benötigte: die Uhr. Libet forderte C. M. nun auf, zu einem frei gewählten Zeitpunkt das rechte Handgelenk zu knicken. Den genauen Zeitpunkt der Bewegung verriet ihm die Spannungsänderung der Elektrode am Handgelenk, das Bereitschaftspotential lieferten die Elektroden am Kopf, und den Zeitpunkt der bewussten Entscheidung erfuhr er nach jedem Versuch von C. M. selbst, die sich merkte, wo der kreisende Punkt gestanden hatte, als ihr Wille einsetzte.
«Die Versuchspersonen hatten keine Ahnung, worum es ging, und fanden das alles recht sonderbar», erinnert sich Libet. Aber für 25 Dollar pro Sitzung waren sie gerne bereit, ihr Handgelenk zu einem frei gewählten Zeitpunkt zu bewegen.
«Ich merkte schon nach dem ersten Versuch, wie sonderbar das Resultat war», sagt der heute 85-jährige Libet, wie er die alten Labornotizen aus einer Schublade zieht. Ein Stapel Papiere, unordentlich mit Zahlen übersät, dazwischen Fotos von Bildschirmkurven: die Bereitschaftspotentiale.
Der Moment, den C. M. als Zeitpunkt ihres Entschlusses für die Bewegung angab, lag immer etwa 0,2 Sekunden vor der Bewegung selbst. Das war ein vernünftiges Resultat, das mit der Erfahrung übereinstimmt. Das Bereitschaftspotential setzte aber mindestens 0,55 Sekunden, in manchen Fällen wie bei Kornhuber und Deecke sogar eine ganze Sekunde vor der Bewegung ein. Im Gehirn von C. M. wurde also eine Handlung eingeleitet, von der das Gehirn eigentlich noch gar nichts wissen konnte, weil sich C. M. ja erst eine Drittelsekunde später überhaupt dazu entschliessen würde. Bei den anderen Versuchspersonen war es nicht anders: Immer war das Bereitschaftspotential da, lange bevor der freie Wille einsetzte.
Auf den ersten Blick liess das Experiment nur eine Folgerung zu: Der freie Wille ist eine Illusion. Das Hirn schickt das Bewusstsein als Strohmann vor, um uns vorzugaukeln, wir hätten die freie Wahl. Doch in den Tiefen des Unterbewusstseins ist längst alles arrangiert. Wir tun nicht, was wir wollen, wir wollen, was wir tun.
Libet mag diese Interpretation nicht. «Wir wären im Wesentlichen raffinierte Automaten, unser Bewusstsein und unsere Absichten eine angeheftete Begleiterscheinung ohne kausale Macht.» Das Experiment rüttelt damit an den Grundfesten unseres Rechtssystems. Darf ein Gericht jemanden für eine Tat bestrafen, die er nicht hätte nicht tun können?
Libet entwarf sofort eine neue Theorie: Zwar zeige sein Experiment tatsächlich, dass wir keine Macht hätten darüber, welche Absichten aus dem Unterbewussten als freier Wille getarnt auftauchten, doch wir könnten dagegen intervenieren. Libet belegte in weiteren Experimenten, dass die zwei Zehntelsekunden zwischen dem bewussten Entschluss und der Aktion ausreichten, das Veto dagegen einzulegen und die ganze Sache abzubrechen. Wenn wir schon keinen freien Willen haben, dann doch wenigstens einen freien Unwillen.
Das sei auch in Übereinstimmung mit religiösen und ethischen Regeln, die zur Selbstkontrolle mahnen, und mit den zehn Geboten, die oft mit «Du sollst nicht . . .» begännen. Seine Veto-Theorie, witzelt Libet, biete sogar eine «physiologische Erklärung der Erbsünde». «Wer bereits die böse Absicht als sündhaft betrachtet, auch wenn sie zu keiner Handlung führt, macht alle Menschen zu Sündern.»
Doch die Veto-Theorie hat einen entscheidenden Schwachpunkt: Wenn einer bewussten Entscheidung eine unbewusste Hirnaktivität vorangeht, warum nicht auch Libets bewusstem Veto?
Einige Wissenschafter glauben, Libet wolle den freien Willen retten, weil er die Konsequenzen seines eigenen Experiments fürchtet. Der Philosoph Thomas W. Clark schreibt: «Der unterschwellige Gedanke ist: Weil es undenkbar ist, dass wir keinen freien Willen haben (schliesslich wollen wir keine Automaten sein, oder etwa nicht?), sollten wir uns schleunigst daranmachen, einen Beweis für den freien Willen zu finden.» Diese Argumentation sei unwissenschaftlich.
Der Streit mündet immer in dieselbe Frage: Gibt es einen nichtmateriellen Geist, oder ist das Bewusstsein allein das Resultat der chemischen und physikalischen Vorgänge im Gehirn? Im zweiten Fall, den die Deterministen vertreten, verliert das Experiment von Libet seine Merkwürdigkeit. Wenn der Geist auf materiellen Reaktionen beruht, die eine nach der anderen im Gehirn ablaufen, dann muss der freie Willen von unbewusster Hirnaktivität angestossen worden sein. Anders ist es gar nicht möglich. Jede Wirkung hat eine Ursache.
In Libets Ergebnissen liegt so gesehen nichts Übernatürliches. Sie widersprechen bloss unserem persönlichen Empfinden. Wir fühlen, dass wir einen freien Willen haben, deshalb glauben wir es. Dieses Eindrucks können sich auch Hirnforscher nicht erwehren. Zwar behaupten viele von ihnen, den Gedanken der persönlichen Schuld und Sühne aufgegeben zu haben, müssen aber zugeben, dass es ihnen nicht gelingt, im täglichen Leben den Widerspruch zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und persönlichem Empfinden aufzulösen.
Obwohl er nicht an den freien Willen glaube, sagt der deutsche Hirnforscher Wolf Singer, «gehe ich abends nach Hause und mache meine Kinder dafür verantwortlich, wenn sie irgendwelchen Blödsinn angestellt haben, weil ich natürlich davon ausgehe, dass sie auch anders hätten handeln können».
Wer aber daran glaubt, dass jede materielle Ursache eine materielle Wirkung hat, muss damit rechnen, dass seit dem Urknall alles vorherbestimmt ist. Auch dass ich diesen Artikel geschrieben habe und Sie ihn jetzt kopfschüttelnd lesen.
Der Widerspruch liesse sich nur beseitigen, wenn ein nichtmaterieller Geist über den freien Willen herrschen würde, der unbeeinflusst von den Gesetzen wirkt, die sonst für die Welt gelten, und dessen Existenz sich kaum beweisen liesse. Für die meisten Wissenschafter keine wirkliche Alternative.