Ist Bush von allen guten Geistern verlassen? Keineswegs. Er ist bloss der erste US-Präsident seit langem, der kompromisslos dem Geist der amerikanischen Pioniere nachlebt: Zuerst kommt das Eigene, dann der unvertraute Rest der Welt.
Patriotisches Gefühl für die erweiterte Familie: George W. Bush.
Kulturaustausch statt Kriegsrausch.
Transparent an der Roten Fabrik in Zürich
Wishful thinking might bring comfort, but not security.
George W. Bush vor dem Bundestag, 23. Mai 2002
George W. Bushs gewinnende Auftritte in Berlin, St. Petersburg und der Normandie mögen zwar einige Kritiker umgestimmt haben; sie ändern aber nichts daran, dass der amerikanische Präsident in Europa wenig beliebt ist. In Deutschland, Russland und Frankreich beurteilen ihn in neueren Umfragen über 40 Prozent negativ, während die Quote derjenigen, die Bush zustimmen, in keinem dieser Länder 25 Prozent überschreitet.
Nicht nur die auf den Strassen demonstrierenden Globalisierungsgegner und Friedensbewegten, sondern weite bürgerliche Gesellschaftskreise lehnen Bushs als arrogant empfundene Aussenpolitik ab. Selbst in der Schweiz, den USA traditionell eher wohlgesinnt, betrachtet wohl eine Mehrheit der Bevölkerung den Texaner mit Misstrauen. In den USA hingegen bleibt der Präsident weiterhin ausserordentlich populär.
Die unterschiedliche, ja gegensätzliche Einschätzung des Präsidenten dies- und jenseits des Atlantiks ruft nach einer Erklärung. Es erstaunt doch sehr, wenn intelligente europäische Kommentatoren über Bushs aussenpolitische Alleingänge, seine Handels-, Nahost-, Umwelt- und Rüstungspolitik den Kopf schütteln, während deren ebenso intelligente amerikanische Kollegen derselben Politik Beifall klatschen. Wer hat Recht? Oder ist es vielleicht eine Frage der Perspektive?
Zusammen schaffen wir es allein
Bush als Führer der einzigen verbleibenden Supermacht betrachtet es als seine Aufgabe, zusammen mit verbündeten Nationen an der Schaffung einer besseren und sichereren Welt zu arbeiten. Gewählt ist er allerdings nicht von der Welt, sondern vom amerikanischen Volk. Und dieses erwartet von seinem Präsidenten, dass er sich in erster Linie um seine Sicherheit, sein Wohlergehen kümmert.
In seinem jüngsten Buch, «Braucht Amerika eine Aussenpolitik?», plädiert Henry Kissinger für ein «unreumütiges Konzept des aufgeklärten nationalen Interesses» und ermahnt seine Landsleute, Antworten auf «harte Fragen» zu finden: «Was müssen wir, um unser Überleben zu sichern, zu verhindern suchen, wie schmerzhaft auch immer die Mittel sein mögen? Was müssen wir, um uns selber treu zu bleiben, versuchen zu erreichen, wie gering auch immer der internationale Konsens sein mag, und, wenn nötig, ganz allein?»
Bush hat sich mit einem Team von kompetenten Aussen- und Sicherheitspolitikern umgeben, die Kissingers Ansichten über die Notwendigkeit einer unsentimentalen, interessenorientierten Aussenpolitik teilen. Vizepräsident Cheney, Staatssekretär Powell, Vertei- digungsminister Rumsfeld und Sicherheitsberaterin Rice mögen einzelne Fragen unterschiedlich beurteilen, aber grundsätzlich sind sie sich einig, dass die von Bushs Vorgänger Bill Clinton verfolgte Aussenpolitik eine entscheidende Kurskorrektur erforderte.
Clinton war geprägt vom Idealismus der Antivietnam- und Bürgerrechtsbewegungen und misstraute der Anwendung militärischer Gewalt. Sein erster Mentor war Senator William Fulbright, der hartnäckigste Kritiker des Vietnamkriegs, und er verdiente seine Sporen im Wahlkampf von Jimmy Carter ab, der als erster amerikanischer Präsident die Menschenrechtspolitik auf seine Fahnen schrieb.
Wie Fulbright und Carter zählt Clinton zur Wilsonschen Schule der amerikanischen Aussenpolitik. Woodrow Wilson, der die USA in den Ersten Weltkrieg führte, um die «Welt für die Demokratie sicher zu machen», glaubte an die moralische Pflicht der USA, ihre demokratischen und sozialen Werte in die ganze Welt hinauszutragen und eine friedliche, inter- nationalen Gesetzen unterworfene Völkergemeinschaft zu schaffen.
Der Wilsonianismus geht auf die amerikanische Missionsbewegung des 19. Jahrhunderts zurück und wollte die Utopie der Pilgerväter – die Errichtung einer «leuchtenden Stadt auf dem Hügel», einer gerechten, freien Gesellschaft – nicht bloss im eigenen Land, sondern auf dem Globus verwirklichen. Diese starke Strömung im amerikanischen Denken bestimmt periodisch die amerikanische Aussenpolitik, gleichzeitig prallt sie immer wieder gegen die harten Realitäten einer widerspenstigen Welt. Wilsons Versuch, mit Hilfe des Völkerbundes Europa in ein System der kollektiven Sicherheit einzubinden, scheiterte am Widerstand der öffentlichen Meinung in den USA und am Eigennutz der europäischen Mächte. Jimmy Carters Versöhnungspolitik erlitt Schiffbruch, als die iranischen Revolutionäre die amerikanischen Botschaftsangestellten in Teheran als Geiseln nahmen und die Sowjetunion in Afghanistan einfiel.
Im Gegensatz zu den unglücklich endenden Bestrebungen Wilsons und Carters wird die von Clinton verfolgte humanitäre und internationalistische Aussenpolitik heute in Europa als erfolgreich gewürdigt. Clintons Rolle in der Beilegung des bosnischen Bürgerkriegs, seine Vermittlungsbemühungen im Nahen Osten und in Nordirland, die Beseitigung der Militärdiktatur in Haiti, der Sieg im Luftkrieg gegen Milosevic und die Befreiung Kosovos gelten als bemerkenswerte Leistungen.
Raus aus dem Morast
Bush und seine Aussenpolitiker teilen diese positive Einschätzung nicht. Am stringentesten formuliert der vor einem Vierteljahrhundert aus der aktiven Diplomatie ausgeschiedene Henry Kissinger die Kritik an Clinton: «Übertriebener Idealismus führt zu Kreuzzügen und schliesslich zu Desillusionierung.» Als Beispiel nennt er die Nato-Interventionen in Bosnien: «Die USA haben kein nationales Interesse, für das sie Menschenleben ris- kieren oder Streitkräfte einsetzen müssen, um einen multiethnischen Staat in Bosnien zu schaffen oder sich dadurch auf ewig in einen politischen Morast hineinziehen zu lassen.»
Ebenso verfehlt war Kissingers Meinung nach Clintons Kosovo-Politik. Das von Aussenministerin Madeleine Albright durchgezwäng- te Rambouillet-Ultimatum – es verlangte von Jugoslawien, seine Provinz Kosovo den Nato-Streitkräften als faktisches Protektorat zu über- lassen – habe zum Krieg führen müssen. Jetzt sei die Nato als Besatzungsmacht zur Partei geworden, und dies «in einem bitteren balkanischen Streit über Fragen, die für die überwältigende Mehrheit der Amerikaner und der Westeuropäer unergründlich scheinen».
Bush hat bereits zu Beginn seiner Amtszeit klar gemacht, dass er mit dem Clintonschen Wilsonianismus und seinen humanitären Expeditionen Schluss machen will. Vorrang haben für ihn die physische Sicherheit und das wirtschaftliche Wohlergehen der Vereinigten Staaten. Bushs aussenpolitisches Team war der Auffassung, dass Clinton aus falscher Rücksicht auf die Meinung der Verbündeten handfeste nationale Interessen vernachlässigt hatte und dass man schleunigst Gegensteuer geben musste.
Symbolische Gesten waren Bushs Ausscheren aus dem Kioto-Protokoll, das ihm als ein für die amerikanische Wirtschaft schädliches bürokratisches Ungeheuer erscheint, seine Absage an den Internationalen Strafgerichtshof, den er als eine Gefahr für die nationale Souveränität betrachtet, oder seine Kündigung des ABM-Vertrags, der dem Bau des von Bush als unverzichtbar betrachteten Raketenabwehrsystems im Wege stand. Die Verbündeten heulten auf. Da war ein Präsident, der aus kurzsichtigem Eigennutz die ökologische Zukunft der Welt aufs Spiel setzte, das Völkerrecht mit Füssen trat und einen neuen Rüstungswettlauf einzuleiten drohte!
War denn Bush von allen guten Geistern verlassen? Nein, er reihte sich bloss in die mächtige aussenpolitische Denkschule ein, die tief in der amerikanischen Siedlungsgeschichte wurzelt und die der Politologe Walter Russell Mead die «Jacksonsche» – nach General und Präsident Andrew Jackson – getauft hat.
Das Wertesystem der Siedler
Jacksonsche Aussenpolitik wird bestimmt durch den Ehrenkodex und das Wertesystem, das sich unter den amerikanischen Pionieren herausbildete, die vor über zweihundert Jahren über die Appalachen zogen, die Wälder rodeten, ihre Homesteads bauten, die Felder bestellten und mit den Indianern kämpften. Der Jacksonianer glaubt, dass jeder seines Glückes Schmied ist; dass jeder tun und lassen kann, was er will; dass alle, ungeachtet ihrer Herkunft, gleich sind; und dass jeder, solange er ehrliche Arbeit leistet, Respekt verdient. Obschon eingefleischter Individualist, gebietet ihm sein Sittenkodex Loyalität zur Familie und Ehrlichkeit innerhalb der Gemeinschaft. Mut wird besonders hoch geschätzt. Wenn es um die Ehre geht, lässt der Jacksonianer nicht mit sich spassen. Er greift zur Waffe, um sein Heim und seine Person gegen Missetäter und die Vereinigten Staaten gegen ihre Feinde zu verteidigen.
Für den Jacksonianer ist die Nation die erweiterte Familie, für die er ein tiefes patriotisches Gefühl empfindet. Er unterscheidet zwischen der eigenen Volksgemeinschaft und dem ihm unvertrauten «Rest der Welt». Laut Walter Russell Mead schätzen ausländische Beobachter die amerikanische Aussenpolitik notorisch falsch ein, weil sie die relativ simple aussenpolitische Weltsicht der Jacksonianer nicht verstehen: «Jacksonianer glauben, dass das internationale Leben gewaltsam und anarchisch ist. Die Vereinigten Staaten müssen wachsam, stark, bewaffnet sein. Unsere Diplomatie muss schlau, kraftvoll und nicht rücksichtsvoller als diejenige irgendeines anderen Staates sein. Es ist völlig in Ordnung, fremde Regierungen zu stürzen oder fremde Führer zu ermorden, deren böse Absichten klar sind. Jacksonianer werden eher ihren politischen Führern den Verzicht auf die Anwendung robuster Mittel ankreiden, als sich über die Feinheiten des Völkerrechts zu erregen. Jacksonianer glauben, dass es im internationalen Leben einen Ehrenkodex gibt und dass diejenigen, die sich daran halten, entsprechend behandelt werden sollen. Aber diejenigen, die den Code verletzen, die beispielsweise gegen unschuldige Zivilisten in Friedenszeit terroristische Anschläge verüben, gehen des Schutzes verlustig und verdienen nicht mehr Achtung als Ratten.»
«Es gibt keinen Ersatz für Sieg»
Jacksonianer halten sich aus fremden Händeln heraus, aber wenn sie angegriffen wer- den, schlagen sie vehement zurück. Wenn sie die vitalen Interessen des Landes gefährdet sehen, sind sie bereit, enorme finanzielle und persönliche Opfer auf sich zu nehmen. Einmal im Krieg, halten sie sich an General Douglas MacArthurs Devise: «Es gibt keinen Ersatz für den Sieg.»
Der Überfall auf Pearl Harbor klopfte die Jacksonianer aus dem Busch, und in ihrem gnadenlosen Krieg gegen den Feind verschwendeten sie nicht einen Gedanken daran, ob der Einsatz von Atombomben ethisch gerechtfertigt sei. Präsident Harry Truman aus Missouri, der den Befehl zum Abwurf der Atombomben gab und später den Sowjets im Kalten Krieg ebenso wie Korea die Stirne bot, war ebenso Jacksonianer wie der in einer Kleinstadt im ländlichen Illinois aufgewachsene Ronald Reagan.
Vater George Bush, ein Spross des Ostküsten-Geldadels, der traditionsgemäss die handelspolitischen Interessen der Wirtschaft in den Vordergrund stellt und aussenpolitisch eher europäisch denkt, kann nicht den Jacksonianern zugerechnet werden. Der Sohn hingegen, der seine prägenden Jugendjahre in einer westtexanischen Ölstadt verbrachte, ist durch und durch von der Jacksonschen Pioniermentalität geprägt und steht im Einklang mit den Ansichten der breiten Jacksonschen Volksschichten. Die Jacksonsche Denkweise ist nämlich nicht auf das protestantische ländliche Mittelamerika beschränkt, sondern hatte schon im späten 19. Jahrhundert die Neueinwanderer aus dem katholischen oder orthodoxen Süd- und Osteuropa erfasst. Heute denkt wohl die Mehrheit der in den Suburbs lebenden amerikanischen Arbeiter- und Mittelklasse jacksonisch.
Der Anschlag vom 11. September traf den Nerv der Jacksonianer und mobilisierte sie wie kein Ereignis in der amerikanischen Geschichte seit Pearl Harbor. George W. Bush, der Instinktpolitiker par excellence, war der Herausforderung gewachsen. Mit schlafwandlerischer Sicherheit sagte und tat er, was das Volk von ihm erwartete. Für die Jacksonianer ist die einzig denkbare Antwort auf den 11. September die Vernichtung des Feindes. Der Anschlag hat die Verwundbarkeit Amerikas gezeigt und zwingt den Präsidenten dazu, die Sicherheit des Landes zu seiner ersten, absoluten Priorität zu machen. Die Vernichtung der al-Qaida allein ge-nügt nicht, es müssen auch die Regime unschädlich gemacht werden, die künftige Terroristen mit Massenvernichtungswaffen beliefern könnten. Dies erklärt, wieso in den USA ein breiter Konsens darüber herrscht, dass Saddam Hussein weg muss. Dies erklärt auch, wieso die Amerikaner gelassen zusehen, wenn Scharon im Westjordanland brutal die Panzer auffahren lässt – er bekämpft in ihren Augen den Terrorismus, den gemeinsamen Feind.
Für die Europäer ist es nicht leicht, Bushs und Amerikas Glauben an eine kriegerische Lösung des Terrorismusproblems zu verstehen. Zwei auf seinem Boden ausgetragene blutige Weltkriege haben in Europa eine Abneigung gegen jede Form militärischer Auseinandersetzung zurückgelassen. Für die Europäer, die gelernt haben, ihre Differenzen auf dem Verhandlungsweg beizulegen, kann der Krieg nicht mehr die Clausewitzsche Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln sein. Sie setzen auf eine Welt, in der gemeinsam vereinbarte Verhaltensregeln allen Schutz bieten.
Die Abneigung gegen kriegerische Lösungen rührt auch von Europas militärischer Schwäche her. So werden, wie der amerikanische Politologe Robert Kagan dies darstellt, Bedrohungen vom Typ Irak unterschiedlich gesehen: «Eine nur mit einem Messer bewaffnete Person wird denken, ein im Wald herumstreichender Bär stelle eine tolerierbare Gefahr dar – zu versuchen, den Bär zu töten, ist riskanter als sich zu ducken und zu hoffen, der Bär greife nicht an. Eine mit einem Gewehr bewaffnete Person wird wahrscheinlich eine andere Überlegung anstellen: Wieso soll man riskieren, vom Bären zerfleischt zu werden, wenn man dies vermeiden kann? Die Amerikaner können sich vorstellen, erfolgreich den Irak anzugreifen und Saddam zu stürzen, und deshalb befürworten mehr als siebzig Prozent der Amerikaner eine solche Aktion, besonders nach der Erfahrung des 11. Septembers. Die Europäer, nicht überraschend, halten diese Aussicht für unvorstellbar und beängstigend.»
Jacksonsche Mentalität – zu der auch eine fast selbstverständliche Befürwortung der Todesstrafe gehört – ist dem durchschnittlichen Europäer fremd oder gar zuwider. Jacksonsche Aussenpolitik, wie von Bush betrieben, beunruhigt ihn. Immer ausgeprägter driften amerikanische und europäische öffentliche Meinung auseinander. Gibt es eine Brücke?
Der Freund mit dem Kompass
Ein Hoffnungsstrahl für die Europäer sind Bushs feines politisches Sensorium für das Mögliche und die von ihm als Gouverneur von Texas bewiesene Fähigkeit zum Bau von Koalitionen. Der Präsident, der eine rasche Auffassungsgabe besitzt, hat unter der Anleitung seines Staatssekretärs Powell und des britischen Premiers Blair gelernt, dass der Kampf gegen den Terrorismus nur von einer weit gespannten Allianz erfolgreich geführt werden kann.
Wie geschickt George W. Bush im Gewinnen von Freunden ist, zeigt sich jetzt an dem auf eine ganz neue Basis gestellten amerikanisch-russischen Verhältnis. In seinem Streben, die Welt friedlicher und stabiler zu gestalten, wird sich Bush zwar von seinem Jack- sonschen Kompass leiten lassen. Aber er wird zumindest die Freunde anhören und gegebenenfalls den Kurs ihrem Rat anpassen.
doch, ist noch interessant zu lesen, die erklärungen für bushs verhalten leuchten mir ein. dennoch ist diese weltanschauung in meinen augen extrem veraltet. ausserdem wird bush doch etwas zu positiv dahingestellt - eben weil wir nicht mehr im wilden westen leben, sind seine tugenden keine.
es ist auch klar das bushs verhalten nur in den augen eines "jackson-denkenden" positiv ist. jedoch muss man sich, egal ob es uns veraltet vorkommt oder nicht, mit der problematik auseinandersetzen, denn bush ist längst nicht der einzige der so "veraltet" denkt. halb amerika tut es.
also ist der begriff veraltet ein bisschen komisch.